Zum abrupten Ende eines Schutzprojektes auf der Seychellen-Insel Silhouette

von Horst Köhler, Friedberg


Der 6. Dezember 2006 war ein großer Tag für den Riesenschildkrötenschutz auf den Seychellen, speziell für den auf der Insel Silhouette. Silhouette ist die etwa 20 qkm große Nachbarinsel nordwestlich von Mahé und die drittgrößte aller Seychellen-Inseln. Denn an diesem Tag wurden fünf adulte Arnoldi-Riesenschildkröten Dipsochelys arnoldi von ihren bisherigen Gehegen in dem kleinen Dorf La Passe auf Silhouette nach einstündiger Bootsfahrt entlang der Insel in der weitgehend unzugänglichen Region Grande Barbe an der Südwestküste in die freie Wildnis entlassen. Grande Barbe liegt auf der anderen Seite von La Passe und lässt sich auch heute nur über das Meer erreichen. Das Vorhaben bedeutete die erste Auswilderung von Riesenschildkröten auf einer der zentralen granitischen Seychellen-Inseln, auf denen der natürliche Wildtierbestand schon Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengebrochen war. Nur Dipsochelys dussumieri, die Aldabra-Riesenschildkröte, konnte auf ihrer unbewohnten, unwirtlichen und isolierten Koralleninsel Aldabra überleben, weil dort früher keine Walfangschiffe und auch heute noch keine größeren Touristen-Schiffe anlegen können. Wie die Art Dipsochelys hololissa galt auch D. arnoldi in der Wildnis lange Zeit als ausgestorben. Mit einigen im Jahr 1995 zufällig bei Privathaltern entdeckten Exemplaren begann dann jedoch ein erfolgreiches Rettungsprogramm dieser beiden Arten.

Die in Grande Barbe frei gelassene Tiergruppe bestand aus den drei Männchen Hector, Stan und Adria und den beiden Weibchen Clio und Alida, die mit weiteren Zuchttieren in den Jahren zuvor in der Zuchtstation in La Passe für viel Nachkommen gesorgt hatten (Bild 1 und 2). Vier der Tiere trugen Mess-Sensoren zur Erfassung der jeweils zurückgelegten Laufstrecken sowie für Licht und Temperatur; allerdings fielen bei drei Schildkröten die Sensoren wegen mangelhafter Klebeverbindung leider schon kurze Zeit später wieder ab.
Interessant ist, dass sich die fünf Schildkröten nie sehr weit vom Ort ihrer Freilassung entfernten und lediglich eine Fläche von insgesamt etwa einem Hektar beanspruchten. Nur eines der drei Männchen soll innerhalb des ersten Jahres seinen Standort um 200 m geändert haben.

GerlachBild1kleinBild 1: Eine eher selten zu sehende Aufnahme: Schlüpfling von Dipsochelys arnoldi aus dem Jahr 2005 mit dem Rest des Geleges. Rechts unten am Bildrand ist ein weiteres Ei mit einem noch in ihm sitzenden Schlüpfling zu erkennen. Die kreisrunden Eier, 48 - 55 mm im Durchmesser und 60 - 70 g schwer, werden in angefeuchtetem Vermiculit in zwei Brutschränken bei unterschiedlichen Temperaturen ausgebrütet, die Weibchen bei 30 °C. Die Zeitigungsdauer der Eier beträgt je nach Temperatur 40 bis 60 Tage.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

GerlachBild2kleinBild 2: Aufzuchtbereich der Schutzorganisation im Dorf La Passe auf Silhouette mit Jungtieren der Arnoldi-Riesenschildkröte. Um die erforderlichen Mittel zum Betrieb der Station zu generieren, konnten hier Tier-Patenschaften für juvenile Riesenschildkröten zum Preis von umgerechnet etwa 300 Euro abgeschlossen werden. Die Tiere verblieben natürlich in der Station.



 


 

 

 

 

 

 

Um zu verstehen, was passiert ist, muss auf die beteiligten Organisationen eingegangen werden. Zuständig für alles, was auf einer Seychellen-Insel geschieht oder verändert wird, ist naturgemäß die Regierung der Seychellen, genauer gesagt die dafür eingerichtete Insel-Entwicklungsgesellschaft (Island Development Company, IDC). Um gegenüber dieser Behörde für die Belange des Naturschutzes auf der Insel Silhouette eintreten zu können, gründete sich im Jahr 1992 eine Freiwilligengruppe um den anerkannten Riesenschildkrötenexperten Ron Gerlach (geboren 1938) und seinen Sohn Justin (geboren 1970) unter dem Namen Nature Protection Trust of Seychelles (NPTS). Der NPTS erhielt als zivile, nicht-kommerzielle Naturschutzorganisation von der IDC die Erlaubnis, für den Erhalt der noch naturbelassenen Gebiete auf der Insel und für die Wiederansiedlung der quasi ausgerottenen Riesenschildkröten (neben Dipsochelys arnoldi auch D. hololissa) zu sorgen. So errichtete der NPTS 1997 auf Silhouette bei La Passe ein eigenes Verwaltungsgebäude (Bild 3) sowie Hälterungsgehege und Aufzuchtstationen (Bild 2), auch für seltene Pelomedusen-Süßwasserschildkröten. Noch im gleichen Jahr wurden die Gehege mit sechs erworbenen D. hololissa und einem Paar D. arnoldi von den Inseln Mahé und Praslin besetzt; später kamen noch weitere Tiere beider Arten hinzu.
Allein zwischen 2002 und 2006 wurden in der NPTS-Station rund 140 junge D. arnoldi erfolgreich aufgezogen (Bild 1 und 2), so dass die Idee entstand, einige der Zuchttiere, die in La Passe nicht mehr unbedingt benötigt wurden, wie oben erwähnt bei Grande Barbe auszusetzen.

NPTS_information_centerkleinBild 3: Nunmehr verlassenes und ungenütztes Büro- und Informationszentrum des NPTS auf Silhouette, das die Naturschutzorganisation NPTS von Vater und Sohn Gerlach auf eigene Kosten errichtete, ebenso wie die Schildkrötengehege (Schildkröten-Gehegefläche insgesamt etwa 2.000 m2). Der NPTS liegt jetzt im Streit mit der Insel-Entwicklungsgesellschaft um finanzielle Entschädigung.

 

 


 

 

 

Zur Verstärkung der ausgewilderten Fünfer-Gruppe sollten dann noch mehrere fünf- bis sechsjährige, d.h.etwa 15 kg schwere Schildkröten der gleichen Art aus dem NPTS-Zuchtprogramm folgen. Maximal ungefähr 100 Tiere außerhalb von Gehegen sollten für eine sichere Zuchtpopulation in Freiheit ausreichend sein, so die Biologen und Herpetologen vom NPTS. Silhouette selbst würde, aus der Individuenzahl von Aldabra heruntergerechnet, maximal sogar bis zu 5.000 Riesenschildkröten vertragen.

Doch es kam leider ganz anders. Das endgültige Auswilderungskonzept des NPTS für die Jungtiere war 2009 fertig und wurde absprachegemäß den zuständigen staatlichen Stellen zur Genehmigung vorgelegt. Nach längerer Bearbeitungszeit sprachen sich zwar die Naturschutzexperten der Seychellen für das Vorhaben aus, doch die zuständige Leitung der IDC lehnte es, völlig unerwartet, im Herbst 2010 ab. Doch das war noch nicht alles an schlechten Nachrichten: Wenig später erhielten die Mitarbeiter um Justin und Ron Gerlach sogar noch einen strikten Räumungsbefehl. Der NPTS müsse bis Ende Dezember 2010 die Insel Silhouette, gerade erst im August 2010 offizieller Nationalpark geworden, mit allen Schildkröten verlassen. Alle sofort eingesetzten Versuche, die Regierung umzustimmen, schlugen fehl, nur der Räumungstermin wurde um einige Wochen verschoben.
Die tatsächliche Räumung des NPTS-Geländes erfolgte dann im Mai 2011. Alle in den NPTS-Gehegen in La Passe gehaltenen Zuchttiere sowie die juvenilen und sub-juvenilen Nachzuchten wurden auf die Seychellen-Inseln North, Frégate und Cousine umgesiedelt. Einer der dabei auftretenden Nachteile: Diese Tiere mussten zwangsläufig mit Riesenschildkröten des Albabra-Morphotyps vergesellschaftet werden, was man eigentlich mit dem ehrgeizgien Silhouette-Schutzprogramm verhindern wollte.
Die Bilder 4 und 5 zeigen die Riesenschildkröten D. arnoldi und D. dussumieri im Vergleich.


GerlachBild4kleinBild 4: Eindrucksvolle Arnoldi-Riesenschildkröte (Dipsochelys arnoldi) in der NTPS-Anlage La Passe auf Silhouette. Heute befindet sich auch dieses Tier leider nicht mehr auf dieser Insel. Kennzeichnend für diese Schildkrötenart ist unter anderem ein flacher, sattelförmiger und eher länglicher Rückenpanzer, der die Nahrungsaufnahme auch von etwas höheren Büschen und niedrigen Bäumen ermöglicht (engl. "browsing"). Außerdem ist das 3. Wirbelschild (Vertebrale oder Centrale) kürzer als das zweite; das 1. Rippenschild (Costale oder Pleurale) ist länger als das zweite.

SilhouetteBild5kleinBild 5: Eine Aldabra-Riesenschildkröte Dipsochelys dussumieri in ähnlicher Haltung fotografiert wie die Arnoldi-Schildkröte in Bild 4. Der Rückenpanzer ist kuppelförmig, ideal zum Durchstreifen und Fressen von niedrig wachsenden Gräsern, Kräutern und niedrigen Büschen geeignet (engl. "grazing"). Das hintere Ende des Carapax ist etwas breiter als das vordere. Weitere Kennzeichen der Art: die Wirbelschilde haben etwas hochstehende Mittelpunkte, wobei der zweite oder dritte Wirbelschild den höchsten Punkt des Panzers bildet. Der Vertebrale 1 und 5 fallen seitlich sehr steil ab. Bild 1 bis 4 mit freundlicher Genehmigung von Justin Gerlach, Bild 5 stammt vom Autor.




Die fünf Riesenschildkröten bei Grande Barbe sind aktuell (Ende Januar 2012) immer noch dort, wo sie Ende 2006 ausgesetzt wurden. Wie Justin Gerlach dem Autor dieses Beitrages auf Anfrage mitteilte, hat der NPTS alle fünf Schildkröten mangels einer besseren Lösung einem seiner Mitglieder vermacht, der auf der Insel Mahé ein großes Grundstück besitzt, darauf ein naturnahes Habitat errichtete und sich bereit erklärt hat, die Arbeit mit den Tieren im Sinne des NPTS weiterzuführen. Gegenwärtig organisiert diese Person den Abtransport der fünf Schildkröten per Schiff nach Mahé.

Die Befürworter und vor allem auch die privaten Förderer und Geldgeber des nunmehr beendeten Riesenschildkröten-Schutzprojektes Silhouette kritisieren das unverständliche und harte Vorgehen der Regierung der Seychellen und werfen ihr mangelndes Interesse am Schutz der Riesenschildkröten vor. Sie befürchten, dass fast 14 Jahre Explorations- und andere Arbeit umsonst geleistet und über 100.000 Britische Pfund (ca. 125.000 Euro) an Geldern, größtenteils zweckgebundene Spenden*), ausgegeben wurden, die anderswo vielleicht genauso dringend benötigt worden wären. Es befremdet schon sehr, dass erst die Zusammenarbeit mit dem NPTS gesucht wurde, dann Silhouette noch den Status eines Nationalparks erhielt – zum Schluss aber der Räumungsbefehl ausgesprochen wurde.

Über die möglichen Motive der Haltung der Inselregierung kann man als Außenstehender nur spekulieren. Vermutlich wollte man den Tourismus auf der Insel voranbringen und das vorhandene Geld dafür verwenden. Da hätten die Riesenschildkröten vielleicht gestört.
Fakt ist aber auch, dass die Reproduktionsrate nicht nur bei den fünf im Dezember 2006 ausgewilderten adulten Dipsochelys arnoldi, sondern auch bei den Weibchen in der NPTS-Zuchtstation bei La Passe in den letzten Jahren sehr niedrig geworden war, vielleicht zu niedrig aus der Sicht der Seychellen-Regierung. Der Hauptgrund dafür ist sicher in der zunehmenden Bautätigkeit auf der Insel Silhouette zu sehen, die zu einer verminderten Fruchtbarkeit der Schildkröten geführt hat. Als Nachfolger eines im Jahr 2005 geschlossenen alten, kleinen 12-Zimmer-Inselhotels wurde nämlich nach zweijähriger Bauzeit im Jahr 2007 das moderne und große 100-Zimmer-Hotel Labriz eröffnet, das dann anschließend nur wenige Meter gegenüber, auf der anderen Straßenseite der NPTS-Schildkrötenstation, bis 2009 auch noch kleinere Apartmenthäuser errichten ließ. All dies bedeutete für die Tiere auf der Insel über vier Jahre lang Stress durch den Baulärm und die Erschütterungen, durch die hin- und herfahrenden Baufahrzeuge, die Entsorgung der Essensabfälle der Bauarbeiter im Wald und – nach der Inbetriebnahme – durch die nächtliche Beleuchtung.

Zu allem Überfluss sollte dann vor der Insel-Entwicklungsgesellschaft IDC auch noch eine die Insel durchquerende, von La Passe ausgehende Straße gebaut werden, um ein bei Grande Barbe geplantes weiteres größeres Hotel per Fahrzeug erreichen zu können. Gegen diesen Straßenbauplan konnte der NPTS jedoch erfolgreich ankämpfen: Die Regierung der Seychellen lehnte den Bauantrag zwar ab, womit ein weiterer Hotelbau und auch der Straßenbau ad acta gelegt werden konnte, doch seitdem ist das Verhältnis zwischen dem NPTS und der IDC stark belastet.

Justin Gerlach nimmt an (pers. Mitt.), dass der Chef der Insel-Entwicklungsgesellschaft die treibende Kraft für den kategorischen Räumungsbefehl war, denn dieser verlor wahrscheinlich durch die Nichtrealisierung von Straße und Hotel nicht nur an Reputation, sondern auch die entsprechend lukrativen Baukontrakte. Die Regierung der Seychellen konnte sich offenbar deswegen gegen die IDC-Spitze nicht durchsetzen, da dessen Chef der Stiefsohn des Präsidenten der Regierungspartei und somit viel einflussreicher als jedes Regierungsmitglied ist…

Möglicherweise war also die Seychellen-Insel Silhouette, im Nachhinein betrachtet, doch nicht das ideale Areal für die Auswilderung von selten gewordenen Riesenschildkröten, aber der Tourismus hat auf den Seychellen offensichtlich einen höheren Stellenwert als der Natur- und Artenschutz und erst Recht als die Auswilderung von immer noch gefährdeten Riesenschildkröten-Arten.

Da sind gewisse Parallelen zu der großen Riesenschildkröten-Herde Dipsochelys dussumieri auf der bei Sansibar im Indischen Ozean gelegenen kleinen Koralleninsel Changuu Island nicht zu übersehen: Wenngleich es sich dort nicht um ein ausgesprochenes Schutzprojekt handelt, hat das (allerdings bislang nicht funktionierende) Hotel-Business klar Vorrang vor den Schildkröten. Dabei stellen die Riesenschildkröten die seit Jahren einzige sichere Einnahmequelle auf Changuu Island dar, nicht zuletzt dank großzügiger Spenden vieler internationaler Besucher.

Literatur:
Gerlach Justin (2004): Giant Tortoises of the Indian Ocean. 208 Seiten. Edition Chimaira, ISBN 3-930612-63-1
Gerlach Justin (Internet, ohne Datum): Release of Arnold`’s giant tortoises Dipsochelys arnoldi on Silhouette Island, Seychelles
Pawlowski Sascha und Krämer Christine (2010): Besuch der NPTS Land- und Süßwasserschildkröten-Zuchtstation auf der Insel Silhouette, Seychellen. RADIATA 19 (3), S. 12-22
Gerlach Justin (2011): Das Ende eines Schutzprojektes für Seychellen-Riesenschildkröten. RADIATA 20 (4), S. 22-29
Gerlach Justin (2012): pers. Mitteilung an den Autor, 13. Januar

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*) Das Silhouette-Riesenschildkröten-Schutzvorhaben war eines von zwei zu Auswahl stehenden förderungswürdigen Projekten, das der Autor dieses Beitrages mit einer Spende aus den Einnahmen des Verkaufs seines Buches „Aufzucht europäischer Landschildkröten-Babys“ unterstützen wollte. Da der vorgesehene größere Betrag jedoch noch nicht zusammen ist, war das Geld noch nicht ausbezahlt worden – zum Glück? Es soll einem anderen Riesenschildkröten-Schutzprojekt zugutekommen.

 

Dieser Beitrag wurde am 27. Januar 2012 online gestellt.