von Horst Köhler, Friedberg

 

Einleitung

Die Frage des „richtigen“ Gewichtes der von uns gepflegten europäischen Landschildkröten ist ein altes Thema und wird heute nach wie vor häufig diskutiert, auch kontrovers. „Stimmt“ denn das Gewicht meiner Schildkröte, fragen sich besorgt viele Halter. Denn, ist das Tier im Vergleich zu gleichaltrigen auffällig klein und/oder leicht, wird oft ein Parasitenbefall oder eine Krankheit befürchtet. Andererseits sieht es recht hässlich aus, wenn bei einer überfütterten Landschildkröte verfettete Extremitäten aus einem nicht schnell genug mitgewachsenen Panzer quellen, was sogar ernsthafte Bewegungseinschränkungen zur Folge haben kann. Bei Recherchen zu meinem Buch habe ich bei gleichaltrigen Schildkröten, sogar bei Geschwistertieren vom gleichen Gelege, von ihren Besitzern Gewichte genannt bekommen, die um das mehr als 3-fache voneinander abwichen (Köhler, 2008a).

Was ist aber nun das „richtige Gewicht“? Nun, entsprechende Beobachtungen und Messungen in der Natur als eines der Ergebnisse meiner Schildkröten-Exkursion 2008* liefern dazu zumindest Orientierungswerte. Was ist nun aber das Gewicht wild lebender Landschildkröten? Im nachfolgenden Bericht die Antwort für maurische Schildkröten der Unterart Testudo graeca ibera.

 

Schildkrötengewicht – aber für welche Bezugsgröße?

In der Literatur und im Internet finden sich einfache Formeln, mit denen das Gewicht von Landschildkröten ausschließlich in Abhängigkeit des Stockmaßes (Carapax-Länge, CL) bestimmt werden kann. Doch das Ergebnis ist mitunter alles andere als zufriedenstellend: als ich einmal ein solches Internet-Programm testete und das Stockmaß und aktuelle Gewicht eines meiner Schildkröten eingab, kam als Kommentar „Gesundheitszustand zwischen alarmierend und dem Tode nahe“. Offensichtlich errechnet das Programm generell zu hohe Werte, was immer dann zu Irritationen bei Schildkröten-Besitzern führt, wenn deren Schildkröten deutlich weniger als vom Programm errechnet wiegen.

 

Dass nur aus dem Stockmaß allein kein realistisches Gewicht bestimmt werden kann, liegt auf der Hand, denn das Gewicht einer Schildkröte ist nicht nur abhängig von der Carapax-Länge, sondern auch von der Breite des Tieres und vor allem von der Höhe des Carapax. So vermaß und wog ich während meiner vorletzten Schildkröten-Exkursion Anfang Juni 2006 in der Südtürkei alle während einer Woche gefundenen wild lebenden Landschildkröten Testudo graeca ibera. Bei der anschließenden Auswertung der Daten suchte ich nach einer charakteristischen, möglichst simplen Größe, mit der das Gewicht in Beziehung gesetzt werden kann. Wenn man, so fand ich schließlich heraus, das Gewicht von Schildkröten der gleichen Art über ihrem Produkt aus Längs- und Querumfang aufträgt, dann bekommt man eine Gewichtskurve mit einem relativ schmalen Streubereich. Den Längsumfang (Ul) eines Tieres ermittelt man dabei mit einem Maßband bei eingezogenem Kopf und Schwanz, den Querumfang (Uq) senkrecht dazu über die höchste Panzerwölbung hinweg (wer kein Maßband zur Hand hat, kann auch eine dünne Schnur verwenden und die abgemessene Länge am Meterstab ablesen). Das Ergebnis ist bei Köhler (2007) veröffentlicht. Meine „mathematische Übung“ war aber nicht Selbstzweck, sondern diente dazu, durch Extrapolation der von mir aufgestellten Kurve im Nachhinein das Gewicht einer außergewöhnlich großen T. graeca ibera zu bestimmen, für die der Gewichtsbereich der vor Ort zur Verfügung stehenden Waage nicht mehr ausreichte (das Tier wog um 3,6 kg und ist damit nach der Fachliteratur eine der größten bisher in der Türkei entdeckten T. graeca ibera; Köhler 2007).

 

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Bild 1: Diese hübsch gezeichnete juvenile Schildkröte (ohne eine einzige Zecke !), ein Weibchen, bewohnt zusammen mit einem größeren Tier ein altes, zerfallenes Steinhaus am Rand des von mir durchsuchten türkischen Schildkröten-Biotops. Ihr Gewicht: 462 Gramm. In Bild 2 lieferte sie mir den zweiten Kurvenpunkt von links. Foto vom 3. Juni 2008 vom Autor.

  

Noch genauere und zuverlässigere Werte

Bei meiner vorerst letzten Schildkröten-Exkursion (2008) ins gleiche Biotop, die ebenfalls während der ersten Juni-Woche statt fand, war ich besser ausgestattet und hatte neben anderen Messgeräten (z.B. UVB-Radiometer) auch eine digitale Waage mit einem Messbereich bis zu 5 kg in meiner Ausrüstung. Leider, wie sollte es auch anders sein, fand ich diesmal nur Schildkröten mit weniger als 2,5 kg Gewicht (Bild 1). Da sich meine im Jahr 2007 veröffentlichte Gewichtskurve für T. graeca ibera teilweise auch auf die Gewichte von in Gefangenschaft gehaltenen Wildfangtieren dieser Unterart abstützte, die mir damals von deren Besitzern auf Anfrage durchgegeben wurden, wollte ich diesmal bewusst nur von mir selbst mit großer Sorgfalt ermittelte Werte ausschließlich von wild lebenden Tieren auswerten.

 

Das Ergebnis zeigt die Grafik (Bild 2): auf der (horizontalen) X-Achse ist das Produkt der beiden Umfänge in Quadratzentimetern aufgetragen, auf der (senkrechten) Y-Achse das gemessene Gewicht in kg von insgesamt sieben maurischen Landschildkröten (eine davon aus der Aktion von 2006). Der Verlauf der Kurve zeigt keine größeren Sprünge. Nur die Schildkröte aus 2006 mit dem Umfangsprodukt 2.000 qcm und einem Gewicht von 1,5 kg erscheint etwas zu leicht: vermutlich lag dies an der Verwendung einer ungenau anzeigenden, teilweise verrosteten Balkenwaage eines in der Nähe lebenden türkischen Bauern, mit der ich das betreffende Tier damals mangels einer besseren Waage wiegen musste (alle anderen Gewichte aus 2008 stammen von meiner genauen Digitalwaage). Vermutlich war die im Juni 2006 vermessene und gewogene Schildkröte in Wirklichkeit 100 bis 150 Gramm schwerer, denn dann ergibt sich in der Tat eine fast ideal verlaufende Gewichtskurve. Nach links, in Richtung kleinerer Tiere, geht sie gegen Null.

 Gewichtsdiagramm

Bild 2: Diese Kurve ergab sich, nachdem die Gewichte von insgesamt sieben vermessenen und gewogenen wild lebenden Landschildkröten der Unterart Testudo graeca ibera (davon stammt ein Tier aus meiner Exkursion 2006, alle anderen aus 2008) über dem Produkt aus Längs- und Querumfang aufgetragen wurden.

  

Jeder Schildkrötenbesitzer kann nun mit dieser Kurve, sofern er den Längs- und Querumfang seines Tieres weiß, sofort feststellen, wie das Gewicht seines Tieres im Vergleich zu dem wild lebender maurischer Landschildkröten der Unterart T. graeca ibera liegt. Umgekehrt kann auch bei bekanntem Gewicht einer Schildkröte das dazugehörige Umfangsprodukt festgestellt werden: ein juveniles Tier mit etwa 1 kg Gewicht hat im natürlichen Lebensraum rund Ul x Uq = 1.500 qcm. Ergibt die Nachmessung dieses 1-kg-Tieres durch seinen Halter beispielsweise ein Produkt von nur 1.200 qcm, ist es in Relation zu seinen Artgenossen im Freiland tendenzmäßig etwas zu schwer.

 

Übertragbar auf andere Arten bzw. Gattungen?

Die hier erstmals vorgestellte Gewichtskurve gilt streng genommen nur für wild lebende Testudo graeca ibera, auch wenn einige Liebhaber und Züchter meine 2007 in der Zeitschrift Schildkröten Im Fokus publizierte Kurve gestestet und als „überraschend stabil“ bezeichnet haben. Ob der Kurvenverlauf tatsächlich auch für andere europäische Landschildkrötenarten gilt, kann allerdings erst dann sicher bestätigt werden, wenn in die Ursprungsländer reisende Schildkröten-Liebhaber an griechischen und Breitrandschildkröten ähnliche Messungen durchführen wie ich für T. graeca ibera. Wäre das nicht eine lohnenswerte und zugleich interessante Aufgabe?

Vorstellen kann ich mir, dass die Gewichtskurve aus Bild 2 dann auch für andere Arten gilt, wenn deren Körperform bzw. -Geometrie weitgehend der der maurischen Landschildkröten entspricht.

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Bild 3: Noch sehr jung und schon so groß: eine von insgesamt 32 der zur Zeit auf der Schildkröten-Insel im Indischen Ozean vermessenen und gewogenen Aldabra-Nachzuchtschildkröten, geschlüpft Anfang 2007. Die dortigen Betreuer machten große Augen, als ich für meine Arbeiten eine Waage erbat (rechts). Offensichtlich hat dort in den letzten Jahren niemand die Größen- und Gewichtsentwicklung der Jungschildkröten ermittelt und schon gleich gar nicht über die Jahre hinweg verfolgt. die juvenilen Tiere bleiben bis zu einem Alter von rund 5 Jahren - dann wiegen sie etwa 5 kg - in einem gegen Diebstahl besonders gesicherten Areal. Foto vom 19. Januar 2008 vom Autor.

  

Mit Sicherheit kann obige Kurve aber nicht für alle Landschildkrötenarten angewandt werden. Als ich im Januar 2008 eine Schildkröteninsel im Indischen Ozean besuchte (auf der gleichen Insel war ich schon im Januar 2007; Köhler, 2008b) und von den dortigen Betreuern der großen Aldabra-Riesenschildkrötenherde erfuhr, dass sie noch nie die Gewichte der Nachzuchten von Dipsochelys dussumieri ermittelt, geschweige denn registriert und ausgewertet hätten, bedrängte ich sie so lange, bis sie einige Stunden später eine Waage organisiert hatten (das war in der Tat ein großes Problem !). Zusammen vermaßen und wogen wir danach einige unterschiedlich alte Jungtiere (Bild 3). So brachte ein erst 8 Monate altes Jungtier mit Ul = 43,5 cm und Uq = 34,3 cm (Ul x Uq = 1492 qcm) schon 1,8 kg auf die Waage, ein Tier von „etwas über einem Jahr“ mit Ul = 63 cm und Uq = 47,4 cm (= 2986 qcm) wog bereits 3,9 kg. Würde man beide Punkte in Bild 2 eintragen, bekommt man eine Gewichtskurve, der deutlich oberhalb der für Testudo graeca ibera-Wildtiere liegt. Grund dafür ist die in Bild 1 und 3 gut erkennbare unterschiedliche Körperform beider Landschildkröten-Arten.

  

Literatur:

Köhler Horst (2007): Betrachtungen zu Gewichten von Testudo graeca ibera aus der Südwest-Türkei. Schildkröten Im Fokus 4 (3), S.11-19

Köhler Horst (2008a): Aufzucht europäischer Landschildkröten-Babys: vom Ei zum robusten Jungtier. Schildi-Verlag Augsburg, 180 S., ISBN 978-3-00-023839-0

Köhler Horst (2008b): Besuch der afrikanischen Insel Changuu. Marginata Nr. 17, März/April/Mai, S.50-55

  

*) Weitere Ergebnisse meiner Studien und Beobachtungen während der Exkursion im Juni 2008 sind bzw. werden in verschiedenen Schildkröten-Zeitschriften veröffentlicht:

Köhler Horst (2008): Standorttreue von Landschildkröten im natürlichen Lebensraum: wild lebende Landschildkröte nach zwei Jahren wiedergefunden. SACALIA 6 (21), November, S. 17-27, Fachzeitschrift der Internationalen Schildkröten-Vereinigung (ISV), Stiefern, Österreich 

Köhler Horst (2009): Temperatur- und UVB-Messungen an Landschildkröten im natürlichen Habitat. August 2009

Köhler Horst (2009): Über Bewegungsradien und Ruhepausen wild lebender maurischer Landschildkröten. Schildkröten Im Fokus, 6 (1), S.29-34

 

Dieser Artikel wurde am 19. Oktober 2008 online gestellt.