von Horst Köhler, Friedberg
Einleitung
Die Menge des Futters für Landschildkröten wird oft kontrovers diskutiert. Selbst in Schildkröten-Fachbüchern findet man hierzu in der Regel kaum hilfreiche Antworten, im Internet oft solche wie „was innerhalb von 10 bis 20 Minuten gefressen wird“, „am besten im Zoogeschäft nachfragen“, „in Maßen füttern“ oder „so füttern, dass die Tiere nur mäßig schnell, aber merkbar wachsen“.
Nun, richtig überfressen kann sich eine Landschildkröte wohl kaum, weil sie nicht mehr aufnehmen kann als in ihren Magen passt. Dies hat die Natur ideal gelöst, zumal die Tiere in freier Wildbahn in der Regel kein überreichliches Nahrungsangebot vorfinden (Bild 1 und 6).
Es kommt durchaus vor, dass eine in menschlicher Obhut gehaltene Schildkröte zwar sehr viel frisst, aber wegen artwidriger Ernährung trotzdem mit lebenswichtigen Nähr- und Mineralstoffen unterversorgt ist. Aber wie sieht es mit dem Gegenteil aus? Gibt es eine tägliche Mindestfuttermenge, die eine Schildköte zu sich nehmen muss ohne auszuhungern? Und was soll sie fressen?
Bild 1: Madagassische Pyxis-Spinnenschildkröte, im Frühjahr 2017 auf Madagaskar in ihrem natürlichen Lebensraum auf ihrem Weg von einem dünenähnlichen Areal zu einem lichten Wald fotografiert. Bei dem kargen Futterangebot besteht keine Gefahr, dass sich das Tier überfrisst, zumal Landschildkröten nur einen kleinen Magen besitzen. Diese Art bleibt mit maximal 15 cm Carapaxlänge und max. 600 g Gewicht kleiner und leichter als Europäische Landschildkröten. Der Fotograf schätzt die Länge dieser Spinnenschildkröte auf 20 cm, was ein recht großer Vertreter der Art wäre. Leider hat er nicht daran gedacht, den Objektivdeckel seiner Kamera zum Größenvergleich vor das Tier zu platzieren. Dessen echte Farbe ist eher ein dunkles Braun. Foto: Dr. Anton Mayer
Brief einer besorgten Schildkrötenfreundin
Nachfolgend ein hier nur auszugsweise wiedergegebener Brief einer Schildkrötenfreundin, die sich um die Landschildkrötengruppe ihres Nachbarn Sorgen macht. Dieser Brief war der Anstoß für diesen Artikel.
Sehr geehrter Herr Köhler,
Unser Nachbar hat seit 50 Jahren drei Griechische Landschildkröten: zwei weibliche, sehr große, eher gelbe, von denen der Nachbar meint, sie wären von der östlichen Rasse (Testudo hermanni boettgeri). Das dritte Tier ist nur halb so groß, fast komplett schwarz, laut Besitzer von der westlichen Rasse (Testudo hermanni hermanni). Die drei Schildkröten sind zwischen 60 und 70 Jahre alt. Von einem früheren Gelege hat er noch drei Weibchen und ein Männchen, mittlerweile etwa acht Jahre alt, sowie ein einzelnes dreijähriges Jungtier. Insgesamt umfasst die Gruppe somit acht Landschildkröten. Einige von ihnen haben sehr hohe, unregelmäßige Höcker. Im Sommer befinden sie sich alle in einem gemeinsamen Freigehege, wo sie mit täglich insgesamt 70 bis allerhöchstens 100 g Grünfutter gefüttert werden (Wildkräuter, ab und zu Kohl, Möhren, selten Salat, kein Obst, keine Tomaten usw.). Ein bis zwei Mal je Woche bekommen sie gar nichts; im Gehege selbst finden sie nur heruntergefressenes Gras. Mehrmals je Woche setzt der Nachbar seine Tiere allerdings für etwa 20 Minuten in seinen Garten, wo sie hauptsächlich Spitzwegerich, Jakobskreuzkraut (ist diese Pflanze nicht giftig?), Klee und Habichtskraut finden. An diesen Tagen bekommen sie im Gehege selbst kein zusätzliches Futter. Momentan (Ende September 2017) wird noch weniger gefüttert, da mein Nachbar meint, es ginge auf die Winterstarre zu.
Meiner Meinung nach ist diese Futtermenge viel zu gering. Wohl deshalb fressen die Schildkröten ihre Gelege, Regenwürmer und Nacktschnecken und im Gehege verscharrten Katzenkot. Auffällig ist: sobald man sich dem Gehege nähert, kommen die Schildkröten sofort aus ihren Verstecken, fixieren einen mit weit herausgestreckten Köpfen und betteln um Futter. Vor lauter Hunger schauen sie nur noch zum Besucher hoch und rennen dabei über die Futterpflanzen, die am Boden liegen. Für mich ist dies ein Verhalten ähnlich wie bei Schnappschildkröten, die auf Beute warten. Meine Meinung nach sind das alles Anzeichen dafür, dass die Schildkröten ständig übermäßig hungrig sind. Spricht man den Besitzer daraufhin an, meint er, Landschildkröten dürfen nie satt gefüttert werden – sie müssen immer Hunger haben.
Ich benötige deshalb eine Art Fütterungsanleitung mit einer genauen Tages-Futtermenge in Gramm und Ihre Einschätzung, ob die 70 - 100 g Grünfutter für die gesamte Gruppe wirklich ausreichend sind oder nicht. Dürfen die Tiere auch ab und zu als Leckerli Obst fressen? Und: ist es normal, dass Landschildkröten Gras fressen? Ich selbst habe dies nämldich bisher noch nie bei einer Landschildkröte beobachtet.“
Der Verdauungstrakt von Landschildkröten und Folgerungen für die Fütterung
Der Verdauungstrakt von pflanzenfressenden Landschildkröten [z.B. Hoffmann & Baur 1999/2000, Dennert 2001] ist vereinfacht wie folgt ausgebildet:
Die Speiseröhre mündet in einen relativ kleinen, nur schwach dehnbaren, aber muskulösen Magen. Dies bedeutet, dass Landschildkröten (im natürlichen Lebensraum) nicht große Futtermengen auf einmal, sondern immer nur kleine Portionen aufnehmen können, und zwar verteilt über den ganzen Tag. Im Magen beginnt sowohl die mechanische Zerkleinerung der Nahrung durch Zusammenziehen der muskulösen Magenwand als auch eine chemische Aufspaltung durch den sauren, enzymhaltigen Magensaft.
Nach dem Magen gelangt die Nahrung in einen mittellangen Dünndarm, in den der Gallengang und die Ausführungsgänge der nur schwach ausgebildeten Bauchspeicheldrüse münden. Der Dünndarm ist länger als der von fleischfressenden Wasserschildkröten. Dies allein ist schon ein Anzeichen dafür, dass Landschildkröten keine Fleischfresser und somit nicht auf proteinreiche Nahrung angewiesen sind.
Einen Großteil der Leibeshöhle füllt der in drei Bereiche (gut ausgebildeter sackartiger Blinddarm, Darm, Enddarm) gegliederte voluminöse, dehnungsfähige gewundene Dickdarm aus. In ihm vermindert sich die Geschwindigkeit des Nahrungsbreies merklich. Sein Durchmesser ist so groß, dass sich das strukturierte Futter in den bauchseitigen Darmfalten absetzt und lange im Darm verbleibt. Durch diese lange Verweilzeit (Darmpassagezeit), die oft über zwei Wochen beträgt [Baur & Hoffmann 2000], nach anderen Autoren sogar bis zu 40 Tagen [Eggenschwiler 2000] und bei Aldabra-Riesenschildkröten auf dem Aldabra-Atoll in der Trockenzeit sogar bis zu 50 Tagen [Ebersbach 2001], spalten die im Darm lebenden Mikroorganismen (Darmflora, bestehend aus Bakterien und Einzeller) die faserreichen Bestandteile des Nahrungsbreies durch Gärung auf und machen sie so für das Tier nutzbar. Die feineren und flüssigen Teile der Nahrung fließen dagegen im oberen Bereich des Darmkanals schneller in Richtung Darmausgang.
Im letzten Dickdarmabschnitt, dem Enddarm, wird dann dem verdauten Futter Wasser entzogen und der Kot gebildet (Bild 2).
Bild 2: Frisch abgesetzter Kot (Gewicht 30 g) einer 2,6 kg schweren Maurischen Landschildkröte im südtürkischen Habitat. Der Kot gesunder Tiere ist kompakt (also nicht dünnflüssig), dunkel und darf keine mit bloßem Auge erkennbaren Würmer haben. Bei genauem Hinsehen erkennt man hier zahlreiche Kerne, die von gefressenen Maulbeerbaumfrüchten stammen.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Darmflora von Landschildkröten zum Lebenserhalt relativ gehaltlose, rohfaserreiche (zellulosehaltige) Nahrung benötigt. Leicht verdauliches ballaststofffarmes und kohlenhydrathaltiges Futter wird nämlich im Schildkrötendarm zu schnell abgebaut und zersetzt. Die nützliche Darmflora wird dadurch geschädigt und durch weniger nützliche, evtl. sogar pathogene Keime verdrängt. Die Darmpassagezeiten werden zu kurz. Die Folgen sind Durchfall und Wasserverlust.
Schwere Verdauungsprobleme sind auch bei der (zu unterlassenen) Verfütterung von überwiegend kohlenhydratreicher Nahrung (z.B. gekochte Eier, Teigwaren, eingeweichtes Brot, Müsli usw.) und bei einem Zuviel an tierischer Nahrung (z.B. Hunde- und Katzennassfutter, Hackfleisch, Mehlwürmer) vorprogrammiert. Auf derartige Futtermittel, die trotz aller Warnungen leider immer noch verabreicht werden, muss in der Pflege von Landschildkröten ganz verzichtet werden. Die Verabreichung von überwiegend tierischer Nahrung mit hohem Eiweißgehalt führt zwangsläufig zur Höckerbildung, Verfettung der Leber, Nierenversagen und zu Gicht (Bild 3).
Bild 3: Höckeriger, eingesunkener und zu kleiner Carapax, hochst wahrscheinlich Panzerenge, Papageienschnabel, alles Folgen einer nicht artgerechten Haltung (falsche Fütterung, evtl. zu hohe Bodentemperatur, nicht durchgeführte Überwinterungen usw.).
Das Hauptfutter für Landschildkröten sollte deshalb fett- und eiweißarm und reich an Rohfasern sein. Bezogen auf die Trockensubstanz (TS) einer Futtermischung sollte Rohfett deutlich unter 10 % Anteil liegen, Rohprotein (Eiweiß) bis zu 20 % und Rohfaser (pflanzliche Faserstoffe) mindestens 12 %, besser 20 %. Neben diesen Nährstoffen muss ein artgerechtes Futter für einen gut funktionierenden Stoffwechsel auch die Mineralstoffe Calcium (Ca) und Phosphor (P) in einer Menge von 2,0 % bzw. 1,2 % (TS) enthalten, wobei das Ca/P-Verhältnis mindestens 1,5:1 betragen soll. Diese Verhältniszahlen deuten an, dass immer auch ein gewisser Phosphorgehalt notwendig ist: ein P-Gehalt von etwa 0,6 % in der Trockensubstanz (TS) wird als bedarfsdeckend angesehen.
Bild 4: Bei einem kleinen Test, den jeder in ähnlicher Weise durchführen kann, präsentierte der Autor dieser Landschildkröte, die er in einer türkischen Hotelanlage fand, mehrere Blüten zur Auswahl. Das Tier zögerte nicht lange und machte sich sofort an die gelben Löwenzahnblüten. So kann man rasch das Lieblingsfutter seiner eigenen Schildkröte herausfinden, wobei allerdings zu vermeiden ist, dass ausschließlich nur dieses angeboten wird.
Im natürlichen Lebensraum der Landschildkröten decken die Tiere ihren Bedarf an Nähr- und Mineralstoffen durch die Aufnahme einer reichhaltigen Mischung von Pflanzen, Kräutern, Blüten (Bild 4), Samen und, wenn auch seltener, Früchten (zu Letzteren weiter unten mehr). Ab und zu finden sie auch ein totes Insekt, eine Schnecke, einen Regenwurm oder sie nagen sogar an einem toten Vogel und decken so ihren (geringen) Bedarf an tierischem Protein. Wir dürfen dabei aber Folgendes nicht vergessen:
1. Während viele Schildkrötenbesitzer ihrem Tier (ihren Tieren) der Einfachheit halber einen halben Salatkopf oder eine Handvoll Löwenzahnblätter oder anderes Wiesengrün als Tagesration ins Gehege legen, nimmt die wild lebende Landschildkröte während ihrer Wanderung mal da und mal dort, mal links mal rechts, Nahrung in Form verschiedenster Pflanzen zu sich – und ist dabei durchaus wählerisch. Es sind immer nur kleine Portionen, oft beißt die Schildkröte nur kurz in die Blätter hinein, ohne sie ganz zu verspeisen, um sich dann der nächsten Pflanze zuzuwenden [Köhler 2008].
Der Pfleger kann diese „Fresspraxis“ kaum 1:1 umsetzen, vor allem dann nicht, wenn er berufstätig ist. Aber er sollte wenigstens zweimal tagsüber kleinere Portionen auslegen und dabei darauf achten, verschiedenartige Futterpflanzen und nicht nur eine Sorte davon anzubieten, z.B. eine Mischung verschiedener Wiesenkräuter mit etwas Heu und faserreichem Salat, überstreut mit geraspelten Möhren. Das Heu kann, wenn es das Tier noch nicht gewöhnt ist, mit einer Schere zerkleinert und dem übrigen gewohnten Futter untergemischt werden.
Wohl dem, der ein großes Freigehege mit ausgesäten Wiesenpflanzen besitzt; doch bereits wenige adulte Landschildkröten sind in der Lage, selbst in einem größeren Gehege die Pflanzenwelt in kurzer Zeit gänzlich zu fressen bzw. niederzutrampeln. Dann bleibt nichts anderes übrig, als zuzufüttern oder, vorausgesetzt das Gehege ist groß genug, den Pflanzenbereich zum Nachwachsen vorübergehend von den Schildkröten abzutrennen.
Bild 5: Auf der unbewohnten semiariden Insel Prison Island (Changoo Island) vor der Küste Sansibars im Indischen Ozean lebt eine Herde von über 100 Aldabra-Riesenschildkröten, die mit der für Korallenatoll-Inseln typischen spärlichen Flora gut zurechtkommen (siehe eigene Beiträge dazu in dieser Website). Nur etwa ein Viertel der Tiere lebt im vorderen, für Besucher zugänglichen Inselbereich und wird dort auch gefüttert. Die meisten Tiere, so auch dieses, bewegen sich jedoch frei auf dem hinteren, etwas versteckt liegenden, deutlich größeren Inselteil und ernähren sich von dem Wenigen, was dort auf dem steinigen Boden wächst.
2. Im natürlichen Lebensraum in Süd- und Südosteuropa gedeiht die Pflanzenwelt, im Gegensatz zu unseren Gefilden, spärlich auf kargen Böden und hat einen entsprechend geringeren Energiegehalt als die Futterpflanzen, die hierzulande üppig wachsen (Bilder 1, 5 und 6). Eine Anreicherung des Grünfutters durch Vitamine ist deshalb bei uns nicht angebracht.
3. Die Flora im natürlichen Verbreitungsraum ist im Gegensatz zum zeitigen Frühjahr und Herbst in den Sommermonaten weitgehend ausgedörrt. Die dort lebenden Schildkröten müssen teilweise größere Strecken zurücklegen, um frisches Grün zu finden. Sie geben sich mit weitgehend verwelktem Futter zufrieden und kommen mit dem reduzierten Nahrungsangebot gut zurecht. Ab und zu finden sie Feigenkakteen (Opuntien), von den Bäumen herunter gefallene Maulbeerfrüchte und -blätter oder in Äckern und Feldern von abgelegenen Bauernhöfen reife Orangen, Apfelsinen, Äpfel, Gurken oder Tomaten. Trotzdem wandern die Tiere nicht in Regionen mit besserem Futterangebot ab, sondern sind sogar regelrecht standorttreu [Köhler 2008].
Bild 6: Ein weitgehend verdorrtes Biotop der Maurischen Landschildkröte (Testudo graeca ibera) an der Südküste der Türkei am Mittelmeer, fotografiert Anfang Juni. Das Tier in der Bildmitte fällt beim schnellen Betrachten fast nicht auf. Im zeitigen Frühjahr und dann etwa wieder ab September ist die Gegend jedoch grün und bietet den Schildkröten reichlich Nahrung.
Der Pfleger kann die hochsommerliche Phase im Habitat dadurch etwas simulieren, dass er in dieser Jahreszeit schrittweise weniger frisches Grün anbietet und dafür mehr selbstgetrocknete Pflanzen oder (gekauftes) eiweißarmes Trockenfutter untermischt, in dem durch eine schonende Verarbeitung von zahlreichen Gräsern und Kräutern die Nähr- und Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine noch sehr gut erhalten sind. Auf die für die Landschildkrötenfütterung geeigneten Futtersorten und deren Gehalt an Eiweiß, Fett, Rohfaser, Calcium und Phosphor wird in diesem Artikel nicht eingegangen, sondern auf entsprechende Tabellen in der Fachliteratur [z.B. Dennert 2001, Eggenschwiler 2000, Köhler 2008] und auf die Hinweise im Internet verwiesen.
Tomaten, Gurken, Melonen, süßes Obst & Co.
Damit nähern wir uns einigen der im eingangs wiedergebebenen Brief enthaltenen Fragen bzw. Aussagen. Auch wenn Landschildkröten sich überwiegend herbivor ernähren, wäre es übertrieben, ihnen in der Heimtierhaltung ausschließlich nur trockenes, proteinarmes Pflanzenfutter anzubieten, zumal die Tiere problemlos auch frisches, proteinreiches Grün verarbeiten können, vor allem an heißen Tagen [Bidmon 2009]. Beobachtet man die Tiere an warmen Sommertagen mehrere Stunden lang in ihrem natürlichen Lebensraum, wird man sehen, dass sie auch gerne Früchte, Gemüse und Obst zu sich nehmen [Köhler 2008]. Sie sind echte Nahrungsgeneralisten, die sich vorübergehend auch an vermeintlich ungeeignetes Futter machen. Dies finden sie beispielsweise in Gärtnereien, abseits von Ortschaften gelegenen Bauernhöfen oder in illegal entsorgten Gartenabfällen.
Tomaten und Gurken enthalten etwa 95 % Wasser und sorgen so für eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr in der heißen Jahreszeit; sie haben ein ungünstiges Ca/P-Verhältnis von deutlich unter 1,0, enthalten aber sehr wenig Fett und reichlich Rohfasern zwischen 16,5 und 20 % (TS). Ähnliches gilt übrigens auch für Kern- und Steinobst sowie für Beeren. Andererseits haben z.B. Orangen (Apfelsinen) ein Ca/P-Verhältnis um 1,8:1 und werden vielleicht deshalb in der Natur gerne gefressen.
Was aber bei den durchgehend höheren Umgebungstemperaturen im natürlichen Habitat, auch nachts, richtig ist, gilt nicht für unsere Regionen. Früchte, Beeren und Co. werden im natürlichen Verbreitungsraum nur deswegen gut verwertet, weil sie bei dem erhöhten Temperaturniveau schnell genug den Darm durchwandern, bevor eine gefährliche Fehlgärung einsetzen kann. Ist die Temperatur jedoch zu niedrig, verlängert sich die Darmpassagezeit mit dem Risiko einer folgenschweren Fehlgärung. Denn die Verweilzeit des Nahrungsbreies im Verdauungstrakt ist temperaturabhängig (wenig bekannt ist, dass auch zu hohe Umgebungstemperaturen die Darmpassage verlangsamen [Bidmon 2009]), weshalb die Haltung von Landschildkröten bei zu hohen Außentemperaturen unterlassen werden sollte. Bei tiefen Temperaturen wird die Verdauung stark verlangsamt oder ganz eingestellt; der Schildkrötenhalter bemerkt dies schon an den kleiner werdenden grefressenen Mengen im Herbst (Bild 7).
Bild 7: Umgebungstemperatur von nur 11 °C und trotzdem hat diese Landschildkröte offensichtlich Hunger? Dies ist kein Widerspruch zu den Ausführungen im letzten Textabsatz, denn dieses Foto machte der Autor, kurz nachdem die Schildkröte im zeitigen Frühjahr gerade aus ihrem beheizten Schutzhaus kam, in welches sie anschließend auch wieder zurückkehrte.
Ballaststoffarme und energiereiche Nahrung wie süße Früchte (Brombeeren, Erdbeeren, Himbeeren usw.) sollte also in der Landschildkrötenpflege nur dann verfüttert werden, und zwar nur als gelegentliches Beifutter („Leckerli“), wenn während der Darmpassagezeiten von z.B. etwa 12 Tagen eine ausreichende Temperatur (24-28 °C zur Verfügung steht und selbst nachts ein Wert von etwa 18 °C nicht unterschritten wird. Dies empfiehlt sich schon deshalb, weil die hier aufgeführten Beeren eiweiß- und fettreich sind. Darüber hinaus ist es sinnvoll, Futtersorten mit einem zu geringen Calciumgehalt (Kern- und Steinobst, die meisten Beeren, Tomaten, Gurken, Melonen usw.) vor dem Verfüttern leicht anzufeuchten und mit Calciumpulver bzw. zerkleinerten Eierschalen zu bestreuen oder Sepia-Schalen im Gehege auszulegen.
Von den im Garten des Nachbarn der Schreiberin des obigen Briefes gedeihenden Pflanzen (Spitzwegerich, Jakobskreuzkraut, Klee und Habichtskraut), sollte nur das bis 1 m hoch werdende, gelb blühende Jakobskreuzkraut (Jakobskraut, Jakobs-Greiskraut) nicht an Schildkröten verfüttert werden, denn alle seine Teile, insbesondere die Blüten, sind giftig (auch für Pferde !). Die Giftwirkung entsteht durch verschiedene Pyrrolizidin-Alkohole (dienen den Pflanzen zur Verbissabwehr), die zu chronischen Leberschäden führen können. Spitzwegerich hat einen hohen Ballaststoffanteil und ist daher ein gutes Futter, was auch für das Habichtskraut gilt. Auch Klee hält der Autor für ein gutes Schildkrötenfutter, denn er enthält 18,5 % Protein und 22 % Rohfaser und besitzt überdies ein hervorragendes Ca/P-Verhältnis von 4,7:1. Eine Calcium-Unterversorgung ist deshalb bei der Verfütterung von Klee nicht zu erwarten. Kleefutter ist vor allem dann angebracht, wenn die übrigen verabreichten Planzen nur wenig Ca enthalten.
Gras als Schildkrötenfutter
Dass Landschildkröten generell kein Gras fressen, trifft aufgrund eigener Beobachtungen nur auf sehr junge Schildkröten zu, die noch nicht in der Lage sind, Grashalme zu schlucken, allenfalls noch auf die Köhlerschildkröte. Ältere Landschildkröten und vor allem die afrikanischen Panther- und Spornschildkröten fressen durchaus Gras, mitunter sogar mitsamt Wurzelansatz; manche Arten grasen sogar regelrecht (Bild 8). Junges Wiesengas ist zwar stark eiweißhaltig (23 % i.d. TS), aber auch rohfaserhaltig (19,4 %) und besitzt ein günstiges Ca/P-Verhältnis von 1,7:1.
Was für alle rohfaserhaltige Futtersorten gilt, gilt auch für junges Gras: es trägt mit zur natürlichen Entwurmung des Darms von Landschildkröten bei.
Bild 8: Obwohl diese rund 30 kg schwere semi-adulte Spornschildkröte (Geochelone sulcata) mit ihrem im Vergleich zu Europäischen Landschildkröten großen Magen großblättrige Pflanzen leicht vertilgen könnte, bevorzugt sie in ihrem Freigehege Gras, am liebsten die kurzen Grashalme kurz nach dem Mähen der Wiese.
Kot, Eier und Kleintiere
Wenn eine Landschildkröte Kot von Artgenossen oder von anderen Tieren frisst, ist dies kein Grund zur Besorgnis. Manche Arten, z.B. Sternschildkröten (Geochelone elegans), fressen ihren Kot sogar sehr häufig, was der Pfleger vor allem in den kalten Monaten daran merkt, dass er im Innengehege bei der täglichen Inspektion kaum Kotausscheidungen zu entfernen hat. Mit dem Kot nehmen Schildkröten die darin lebenden Mikroorganismen auf, die in ihrem Verdauungstrakt den Abbau des aufgenommenen Futters bewerkstelligen. Vor allem in Situationen, in denen die natürlicherweise vorhandene Darmflora geschädigt oder geschwächt ist, z.B. bei starkem Durchfall, nach Antibiotikagaben oder Gaben bestimmter anderer Medikamente, kann sie durch die Kotaufnahme wieder aufgebaut werden. Vorteilhaft ist die Gabe von Pferdekot, da Pferde ebenfalls rohfaserhaltiges Futter fressen und ihre Darmflora mit der der Landschildkröte vergleichbar ist.
Allerdings sollte das Fressen von Katzenkot nach Möglichkeit unterbunden werden: Katze fressen auch verwurmte Kleintiere, die - bzw. deren Eier - mit dem Kot ausgeschieden und dann von den Landschildkröten aufgenommen werden.
Sollten Landschildkröten auffällig oft ihre verstreut im Gehege abgesetzten Gelege fressen (nicht vergrabene, sondern im Gelände verteilte Eier dürften ohnehin unbefruchtet sein), ist dies noch kein Indiz für übermäßigen Hunger. Landschildkröten wissen in der Regel durchaus, welches Futter ihnen guttut und welches nicht. Wenn sie also ihre eigenen Eier verspeisen, dann wohl eher deshalb, weil eine Calcium-Unterversorgung vorliegt, beispielsweise dann, wenn über längere Zeit vorwiegend Salat verfüttert wurde. Eierschalen haben einen Ca-Gehalt von 36 % (und Sepiaschalen von 41 %). Die Gefahr einer Ca-Überversorgung ist eher unwahrscheinlich, weil das Fressen von Schildkröteneiern auf nur wenige Tage im Jahr beschränkt ist. Trotzdem sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ein Zuviel an Calcium, z.B. durch zu reichliches und oftmaliges Überstreuen des Futters mit Calciumpulver, nachteilige Folgen haben kann, vor allem wenn gleichzeitig auch noch ein Vitamin-D3-Mangel vorliegt [Dennert 2001].
Unter „Kleintiere“ ist im Zusammenhang mit dem Thema dieses Artikels die gelegentliche eher zufällige Aufnahme von Gehäuse- und Nacktschnecken, Regenwürmern und toten Insekten und Käfern zu verstehen. Die Landschildkröten decken dadurch auf natürliche Weise ihren (geringen) Bedarf an tierischem Protein, doch ist die Bereitschaft zum Fressen tierischen „Materials“ von Tier zu Tier und bei den einzelnen Arten sehr unterschiedlich. So haben die Sternschildkröten des Autors im Sommer in ihrem Freigehege am frühen, noch feuchten Morgen mit Vorliebe Jagd auf Nacktschnecken gemacht. Der Anblick einer Landschildkröte mit einer zur Abwehr Schleim ausscheidenden Nacktschnecke im Maul ist kein schöner, doch besteht keine Notwendigkeit, der Schildkröte die Nacktschnecke aus dem Maul zu nehmen. Dagegen sind europäische Testudo-Arten nicht immer an Regenwürmern interessiert: oft riechen sie zwar an ihnen, wenden sich dann aber wieder ab.
Augenkontakt mit dem Pfleger = ein Zeichen großen Hungers?
Im eingangs wiedergegebenen Brief stellt die Schreiberin fest, dass die Schildkröten ihres Nachbarn mit lang ausgestreckten Hälsen aus ihren Verstecken kommen, sobald man sich ihnen nähert – und interpretiert dies als extremen Hungerzustand der Tiere. Diese Bedenken sind jedoch nicht gerechtfertigt: Landschildkröten kennen ihren Pfleger und fixieren ihn, wenn er, egal mit oder ohne Futter, an das Gehege tritt. Dabei ist diese Art von Bindung so stark, dass die Tiere nur noch den Menschen sehen und gar nicht mehr bemerken, wenn sie dabei über das im Gehege liegende Futter laufen. An Hunger fehlt es ihnen dabei nicht, vielleicht erwarten besonders zutrauliche Tiere ja auch nur, dass sie am Hals gekrault werden…
Ein Experiment: Schweizer Schüler ermittelt Futtermenge seiner Schildkröten
Der (frühere) Schüler Lorenz Wehrli aus dem schweizerischen Lachen ermittelte 2012 im Rahmen seiner Maturaarbeit nach Ratschlägen eines Herpetologen des Züricher Zoos die tägliche Futteraufnahme seiner beiden Griechischen Landschildkröten [Wehrli 2012]. Bei den beiden (männlichen) Schildkröten handelte es sich um ein 4-jähriges Jungtier mit 9 cm Carapaxlänge und eine 13-jährige Schildkröte mit 20 cm Carapaxlänge. Die kleinere Schildkröte wog bei Beginn des Versuchs 786 g, die größere 1.643 g.
Die Versuchsdauer erstreckte sich über 16 Tage in einem 0,8 m2 großen Terrarium bei einer praktisch konstanten „Durchschnitts-Bodentemperatur“ von 30 °C und einem ebenso langen Versuchsabschnitt im Außengehege, in dem die „Durchschnittstemperatur“ je nach Witterung zwischen 14,8 und 19,5 °C schwankte. Wie diese „Durchschnittstemperaturen“ ermittelt wurden und ob und wie sie auch die niedrigeren Nachttemperaturen erfassten, geht aus der Arbeit nicht hervor (eine aktuelle Kontaktaufnahme mit Lorenz Wehrli schlug fehl). Das Gewicht des gefressenen Futters wurde jeweils als Differenz der am Vormittag ausgelegten und der am Abend noch vorhandenen Futtermenge bestimmt.
Ergebnisse des Schülerexperimentes
Im Terrarium war das von den beiden Landschildkröten zwischen dem 26.7. und dem 11.8.2012 täglich aufgenommene Futtergewicht praktisch konstant. In den 16 Versuchstagen nahmen die beiden Tiere insgesamt 3,88 kg Futter zu sich, also täglich durchschnittlich 242,5 g. Bezogen auf das Summen-Körpergewicht beider Tiere (0,786 + 1,643 = 2,43 kg) wären dies 10 % (siehe weiter unten zum Wert derartiger Prozentzahlen).
Bild 9: In diesem Freigehege für zwei Landschildkröten mit dem Frühbeet rechts hinten registrierte der Schüler Lorenz Wehrli im Juli 2012 16 Tage lang täglich, wieviel von dem am Morgen gegebenen Futter bis zum Abend gefressen wurde. Allerdings fehlen in seinem Ergebnisbericht wichtige Hinweise dazu, ob und wenn ja, wie viel die beiden Schildkröten von den dort wachsenden Grünpflanzen zusätzlich zum gewogenen Futter vertilgen konnten. Bild: [Wehrli 2012].
Im 10 m2 großen Freigehege (Bild 9) mit integriertem 1 m2 großen Frühbeethaus schwankten die „Durchschnittstemperaturen“ während der Versuchsdauer (9.7.-25.7.2012) zwischen einem Minimum von 14,8 °C (an dem betreffenden Tag fraßen die beiden Tiere zusammen lediglich 25 g) und einem Maximum von 19,5 °C (an diesem Tag fraßen die beiden 275 g). Insgesamt haben beide Schildkröten während des 16-tägigen Schülerexperimentes bei einer gemittelten „Durchschnittstemperatur“ von 17,43 °C 2,93 kg Futter zu sich genommen (davon allein 1,75 kg = 60 % an Tomaten !). Dies entspricht 183 g täglich, also wegen der tieferen Haltungstemperaturen erwartungsgemäß weniger als im Innengehege bei höherer konstanter Temperatur. Bezogen auf das Gewicht beider Schildkröten entspricht dies 7,5 %.
Nach dem insgesamt 32 Tage dauernden Versuch des Schülers hatte die kleinere Schildkröte 9 g zugenommen, die größere 15 g. Aus ernährungsphysiologischer Sicht ist allerdings zu beanstanden, dass das täglich angebotene Futter während des Versuchs zu 45 % (Terrarium) bzw. sogar zu 60 % (Außengehege) aus Tomaten bestand; Rest: Kopfsalat und käufliches Trocken-Mischfutter für Landschildkröten. Der Wert der Ergebnisse des Experimentes wird außerdem dadurch geschmälert, dass nicht klar ist, wie viel die beiden Landschildkröten von dem im Freigehege natürlich wachsendem Grün zusätzlich gefressen haben.
Energiebedarf von Landschildkröten: Berechnung der Futtermenge
Im Vergleich zu den warmblütigen Säugetieren haben Reptilien, und damit auch die Landschildkröten, einen deutlich geringeren Energie-Grundumsatz; in der Tat benötigen sie nur zwischen einem Achtel und einem Viertel der Energie von Säugern. Der Grund dafür ist, dass die Körpertemperatur von Landschildkröten in erster Linie von der Umgebungstemperatur abhängt. Es wäre also falsch, die von Landschildkröten benötigte Futtermenge beispielsweise über das Körpergewicht und die tägliche Futtermenge eines Hundes, einer Katze oder eines Zwergkaninchens abzuleiten. Vielmehr werden für eine derartige Abschätzung Angaben zum Nährstoffbedarf von Landschildkröten und ihrem Energiehaushalt einerseits und dem Nährstoffgehalt des verabreichten Futters andererseits benötigt (Bild 10).
Bild 10: Eine Gruppe schön gezeichneter und gewachsener Sri Lanka-Sternschildkröten in der Anlage eines amerikanischen Schildkröten-Händlers und -Buchautors beim Fressen von Salatgurken. Eine ständige Verfütterung nur einer einzelnen Futtersorte ohne Abwechslung sollte vermieden werden, zumal z.B. Gurken nur einen relativ geringen Brutto-Energiegehalt und einen hohen Wasseranteil haben und auf Dauer die natürliche Bakterienflora im Verdauungstrakt der Schildkröten schädigen könnten. Foto: Jerry D. Fife, Phoenix, USA
Zu den Nährwerten der verschiedenen Landschildkröten-Futtermittel (Futterpflanzen, Salate, Gemüse, auch Obst) finden sich im Internet reichlich (und teilweise unterschiedliche !) Zahlenangaben („Kalorientabellen“), siehe die Tabelle. In der Regel handelt es sich bei derartigen Angaben um die sog. Brutto-Energie oder auch Gesamtenergie, also um die Wärmeenergie, die beim vollständigen Verbrennen frei wird. Deswegen spricht man auch von Brennwerten oder Heizwerten.
Bei den Verdauungs- und Stoffwechselvorgängen treten allerdings nicht unbeträchtliche Verluste auf. So geht ein Teil der in den Futtermitteln enthaltenen Gesamtenergie (englisch: gross energy, GE) durch die Kotausscheidung verloren. Die noch im Tierkörper verbleibende Energie nennt man umsetzbare oder verdauliche Energie (englisch: digestable energy, DE). Wieviel Energie mit dem ausgeschiedenen Kot verlorengeht, ist von Futtermittel zu Futtermittel unterschiedlich und müsste korrekterweise für jede Tierart (Pferd, Hund, Schildkröte, Fisch usw.) eigens berechnet werden. Nach den Literaturstudien des Autors erfolgt dies für den Heimtierbereich bisher jedoch nicht, vermutlich aus Kostengründen.
Auf Bitten des Verfassers berechnete das Unternehmen AGROBS GmbH die Brutto-Energie und die verdauliche Energie ihres Landschildkröten-Trockenfutters Testudo fibre für die Tiergruppe „Heim-, Nagetier, Schildkröten und Reptilien“ [Bartels, 2017] wie folgt:
Brutto-Energie des käuflichen Futters = 16,4 MJ/kg = 3.919 kcal/kg
Verdauliche Energie = 10,0 MJ/kg = 2.390 kcal/kg
Man sieht daraus, dass von der mit Testudo fibre aufgenommenen Bruttoenergie ein Energiebetrag von 6,4 MJ/kg mit dem Kot ausgeschieden wird; dies entspricht immerhin nahezu 40 % der ursprünglichen Gesamtenergie. Für Testudo Herbs gelten ganz ähnliche Werte. Wie schon gesagt, werden die verschiedenen Futtermittel unterschiedlich verwertet. So hat z.B. 1 kg Stroh zwar die gleiche Brutto-Energie GE wie 1 kg Getreide, doch bei der Verfütterung (an Kühen) wird beim Stroh rund 60 % der Gesamtenergie mit dem Kot ausgeschieden, beim Getreide sind es dagegen nur ca. 11 % [Seewald, 2018].
Doch selbst die verdauliche Energie eines Landschildkrötenfutters kommt der Landschildkröte nicht ganz für ihre Erhaltung und die Umsetzung in Leistung zugute, weil ein (geringerer) Anteil davon mit dem ausgeschiedenen, energiereichen Harn verlorengeht. Konkrete Zahlen dafür gibt es für Landschildkröten im Gegensatz zu den Kotausscheidungen nicht, wohl deshalb, weil die Menge des ausgeschiedenen Harns/Urins im Gegensatz zu den festen Ausscheidungen schwer messbar ist.
Erst was von der verdaulichen Energie nach Abzug der Harnenergie noch im Körper verbleibt, kann in Leistung umgewandelt werden. Diese Energie nennt man umsetzbare Energie (englisch: metapolizable energy, ME). Kennt man die umsetzbare Energie, kann man den täglichen Energiebedarf von Landschildkröten in Abhängigkeit des Körpergewichts überschlägig bestimmen, wobei es allerdings schon eine Rolle spielt, ob eine Schildkröte aktiv oder passiv, juvenil oder adult ist, unter Stress ist oder schläft.
Alle in der Fachliteratur zu findenden Angaben zum Energiebedarf von Reptilien gehen im Grunde auf die Untersuchungen zweier Wissenschaftler zurück, die diese schon vor fast 25 Jahren publiziert haben [Donoghue und Langenberg, 1994]. Sie fanden folgenden Zusammenhang („Grundumsatz“) zwischen der umsetzbaren Energie ME (in kJ) und der Körpermasse KM (in kg) für ein ruhendes bzw. schlafendes Tier:
ME / KM 0,75 = 42 (Gl. 1)
Wegen des Energieverbrauchs bei der Nahrungsaufnahme, Muskeltätigkeit und der Verdauung einer aktiven Schildkröte ist der Quotient um etwa den Faktor 2 höher, d.h. es gilt
ME / KM 0,75 = 84 (Gl. 2)
Gleichung 2 findet sich beispielsweise auch bei [Dennert, 2001]; sie erfordert allerdings zwingend die Kenntnis der umsetzbaren (verdaulichen) Energie ME der verschiedenen Futterpflanzen. Da der Autor jedoch bei seinen Recherchen dafür keine Literaturwerte fand (Ausnahme: Testudo fibre, siehe oben), erfolgt hier noch ein weiterer Aufschlag von etwa 40 % für die Energieverluste durch die Kot- und Harnausscheidungen. Damit ergibt sich schließlich
Gesamtenergie / KM 0,75 = 118 (Gl. 3)
Die benötigte tägliche Gesamtenergie (Brutto-Energie) lässt sich nun aus der umgestellten Beziehung
Gesamtenergie = 118 x KM 0,75 (Gl. 4)
berechnen. Ist die Brutto-Energie (= Kalorieninhalt = Brennwert = Heizwert) eines Schildkrötenfutters in kJ je kg oder je 100 g Futtergewicht bekannt, siehe die Angaben in der Tabelle oben, erhält man das ungefähre Tages-Rationsgewicht.
Dazu zwei Rechenbeispiele
Beispiel 1: Eine Landschildkröte wiegt 1,2 kg. Ihr muss also mit dem Futter eine tägliche Gesamtenergie von 118 x 1,2 0,75 = 118 x 1,146 = 135 kJ zugeführt werden. Nach obiger Tabelle entspricht dies 100 g Kresse (falls das Tier dieses Futter gewohnt ist) oder einer Mischung aus ca. 50 g frischem Löwenzahn und ca. 20 g Brennnesseln.
Beispiel 2: Eine 30 kg schwere Spornschildkröte (Bild 8) frisst am liebsten Kohlblätter und frisches Gras. Ihr Tagesenergiebedarf ist nach Gleichung 4:
118 x 30 0,75 = 118 x 12,82 = 1.512 kJ.
Deckt sie diesen Energiebedarf jeweils hälftig aus Kohl und Wiesengras, müsste sie rund 720 g Kohl (Bild 11) und etwa 345 g Gras zu sich nehmen. Würde man sie an einem einzelnen Tag ausschließlich mit dem energiereichen Trockenfutter Testudo fibre ernähren, würden davon 92 g völlig ausreichen.
Bild 11: Etwa doppelt so viele frische Kohlblätter, wie diese locker und nicht ganz gefüllte Plastiktüte enthält, zuzüglich 345 g Wiesengras müsste die 30 kg schwere Spornschildkröte nach Gl. 4 täglich zu sich nehmen.
Warum Futtermengen-Angaben in Prozent der Körpermasse nicht sehr sinnvoll sind
Im ersten Fall (frisches Grünfutter) nimmt die Spornschildkröte 3,5 % ihres Körpergewichts in Form von Nahrung zu sich, im Fall von Testudo fibre jedoch nur 0,3 %. Dies zeigt deutlich, dass verallgemeinernde Angaben wie die, dass Landschildkröten täglich einen bestimmten Prozentsatz ihrer Körpermasse an Futter fressen sollten, mit großer Vorsicht zu sehen sind. Denn maßgebend dafür ist die genaue Brutto-Energie des jeweils verabreichten Futters mit all den vorhandenen Ungenauigkeiten (z.B. abweichende Literaturangaben, unterschiedlicher Energiegehalt je nach Jahreszeit des geernteten Futters, wenig aktive Landschildkröten haben einen geringeren Energiebedarf als aktive Tiere, vereinfachende Annahmen für das Rechenverfahren).
Erhält die Schildkrötengruppe des Nachbarn der Verfasserin des eingangs wiedergegebenen Briefs ausreichend Futter?
Zum Schluss dieses Beitrages soll nun konkret auf die am Beginn wiedergegebene Anfrage der Schildkrötenfreundin eingegangen werden, ob deren Nachbar seine acht Landschildkröten (davon sechs adulte, eine semi-adulte und ein juveniles Tier) mit einer Grünfuttermenge von täglich zwischen 70 und 100 g ausreichend ernährt oder nicht.
Das Gewicht der gesamten Gruppe wird auf 12 kg geschätzt (ein Wiegen war nicht möglich, da sich die Schildkröten bei Erhalt des Schreibens bereits in der Winterruhe befanden, die aktuell - Februar 2018 - noch andauert).
Nach Gleichung 4 wird die benötigte
Gesamt-Energie = 118 x 12 0,75 = 118 x 6,45 = 761 kJ
Besteht das Futter beispielsweise zu gleichen Gewichtsanteilen aus Brennnesseln und Löwenzahn, wären nach der Tabelle in diesem Artikel insgesamt etwa 380 g Frischfutter zu verfüttern. Das ist deutlich mehr als die oben erwähnten 100 g an Mischfutter je Tag. Wird den Tieren Salat angeboten, wäre die Futtermenge aufgrund des geringeren Brutto-Energiegehaltes sogar noch größer.
Freilich ist nicht sicher, ob die Schildkröten des Nachbarn der Briefverfasserin doch mehr als nur max. 100 g Grünfutter zu sich nehmen, denn sie wird wohl kaum stunden- und tagelang das Fressverhalten der Gruppe ihres Nachbarn beobachten können.
Ähnliche Betrachtung zur evtl. Übereinstimmung mit dem Experiment des Schülers Wehrli aus der Schweiz (siehe oben): er berichtete, dass seine beiden Landschildkröten (Summengewicht = 2,43 kg) während der Versuchsdauer im Terrarium bei einer Temperatur von 30 °C durchschnittlich täglich 242 g Futter in Form von jeweils zur Hälfte Tomaten und Kopfsalat fraßen. Nach Gleichung 4 ergibt sich der erforderliche Brutto-Energiebedarf für beide Tiere zu
118 x 2,43 0,75 = 118 x 1,95 = 230 kJ
Da 100 g Tomaten nach der Tabelle in diesem Beitrag 70 kJ beinhalten und 100 g Kopfsalat 48 kJ, wäre dieser Energiebedarf erst dann gedeckt, wenn die beiden Landschildkröten täglich 200 g Tomaten und 200 g Kopfsalat zu sich nehmen würden, also mehr als der Schüler-Experimentator festgestellt hatte. Warum beide Tiere während der Versuchsdauer trotzdem leicht an Gewicht zunahmen, konnte der Autor wegen Unerreichbarkeit des Schülers nicht klären..
In jedem Fall ist die Schildkröten-Futtermischung Tomaten/Kopfsalat zur Dauer-Ernährung von Landschildkröten schon allein deshalb ungünstig, weil beide Futtersorten 95 % Wasser enthalten, calciumarm sind und Tomaten ein ungünstiges Calcium/Phosphor-Verhältnis von lediglich etwa 0,5 besitzen.
Einschränkungen der Rechenmethode und Kritik
Das in diesem Artikel beschriebene Rechenverfahren liefert Anhaltswerte für die tägliche Futtermenge zur Ernährung von Landschildköten unter folgenden einschränkenden Randbedingungen:
- Gilt nur für semi-adulte und adulte aktive und gesunde Tiere
- Nur für Schildkröten mit ausreichend Bewegungsmöglichkeit
- Die Futteraufnahme erfolgt im Freien, im Sommer und an warmen bis heißen Tagen.
Bild 12: Habitataufnahme einer vor der Mittagshitze im Schatten Schutz suchenden Maurischen Landschildkröte. Aufnahme vom Juni gegen 12 Uhr mittags bei einer Temperatur an der Sonne von über 40 °C. Alle Fotos dieses Artikels bis auf Bild 10 stammen vom Autor.
Es gilt als selbstverständlich, dass Landschildkröten an tropisch heißen Tagen versteckt ruhen und dann auch nicht fressen (Bild 12), ebenso an kühlen und regnerischen Sommertagen. Die errechneten Futtermengen sind somit als kurzzeitige Höchstwerte zu sehen und nicht etwa als Durchschnittswerte über eine gesamte Freiluftsaison von vier bis sechs Monaten. Auch balzende, kämpfende oder unter Dauerstress stehende Landschildkröten nehmen weniger Futter zu sich, ganz zu schweigen von kränkelnden und/oder alten Tieren.
Literatur:
Bartels Anna, AGROBS (2017): Energiebewertung des Landschildkrötenfutters Testudo fibre und Testudo Herbs. Pers. Mitteilungen an den Autor vom 1. und 6.12.2017
Baur Markus & Hoffmann Rudolf (2000): Europäische Landschildkröten – Haltung, Ernährung, Krankheiten. BNA aktuell, 1/2000
Bidmon Hans-Jürgen (2009): Ernährungsgrundlagen und Darmpassagezeiten bei herbivoren Landschildkröten – oder wie selektierende Nahrungsgeneralisten auch unter extremen Bedingungen überleben: Eine Übersicht. SCHILDKRÖTEN IM FOKUS 6 (1), S. 3-26
Dennert Carolin (2001): Ernährung von Landschildkröten. Natur und Tier-Verlag GmbH, Münster, ISBN 3-931587-53-5
Donoghue S. und Dannenberg J. (1994): Clinical nutrition of exotic pets. Austr. Vet. J., 71: 337-341
Ebersbach Katja (2001): Zur Biologie und Haltung der Aldabra-Riesenschildkröte (Geochelone gigantea) und der Galapagos-Riesenschildkröte (Geochelone elephantopus) in menschlicher Obhut unter besonderer Berücksichtigung der Fortpflanzung. Dissertation am Institut für Zoologie Hannover
Eggenschwiler Ursula (2000): Die Schildkröte in der tierärztlichen Praxis. Schöneck-Verlag Siblingen, Schweiz, ISBN 3-9522067-0-9
Hoffmann Rudolf und Markus Baur (1999/2000): Die Verdauung bei Landschildkröten unter Berücksichtigung der anatomischen Strukturen. SCHILDKRÖTE, 2. Jahrgang, Nr. 2/2000
Köhler Horst (2008): Aufzucht europäischer Landschildkröten-Babys – Vom Ei zum robusten Jungtier. Schildi-Verlag Augsburg, ISBN 978-3-00-023839-0 (der Titel ist vergriffen und nur noch über das Antiquariat oder über Amazon beschaffbar)
Köhler Horst (2008): Standorttreue im natürlichen Lebensraum: wild lebende Landschildkröte nach zwei Jahren wiedergefunden. SACALIA 21(6), November 2008
Köhler Horst (2009): Über Bewegungsradius und Ruhepausen wild lebender Maurischer Landschildkröten. Schildkröten-Im-Fokus 6(1)
Seewald Paul (2018): http://www.zwseewaldt.net/Seiten/energiebewertung.html (Stand Januar 2018)
Wehrli Lorenz (2012): Ernährung und Fressverhalten von Landschildkröten. Maturaarbeit Oktober 2012, http://www.ksasz.ch/images/PDF-Dokument/Maturaarbeiten/2012/4A/4a_wehrli_lorenz.pdf, Stand November 2017